Die moderne Welt brauchte entweder ein historisch besser begründetes anderes Christentum oder keines.
der letzte Satz im Buch (p 423)
Mein erster Flasch: »Christentum und Aufklärung. Voltaire gegen Pascal«. Eine Woche fesselnde Lektüre.
Kurt Flasch schreibt aus der Perspektive des Philosophiehistorikers, der für die Zeit vor 1831 die Trennung von der Theologie ablehnt (p 402), er fokussiert hier auf die Kritik Voltaires an Pascal. Voltaire setzte sich lebenslang und obsessiv mit den »Pensées« auseinander (p 273). Flasch sieht beide christlichen Schriftsteller als poetische Genies, will ihre Kunst ehren – das ist ihm wichtiger als alberne Vergleiche (p 403), sieht mal den einen, mal den anderen als überlegen an; er teilt selbst keine der beiden Konzeptionen, empfiehlt beide zum Nachdenken (p 411).
Ich schätze Flaschs ausführliche Darstellung der Problemlage „Christentum im Wandel der Zeiten“ (von Augustinus, Jansenius, Molina zu Pascal, von dort über Simon, Bossuet, Bayle und Locke zu Voltaire), seine stilistisch sehr gut lesbaren Übersetzungen der Pascalschen Fragmente (im Gegensatz zu den teils holperigen in der Reclam- / Suhrkamp-Ausgabe), sein durchgängiges Prinzip, die Fakten sprechen zu lassen (Papiere auf den Tisch!).
Flasch sieht Pascal als großen französischen Klassiker, der durch Vielseitigkeit (Geometer, Physiker, Erfinder, erster Organisator der Pariser Verkehrsbetriebe, Polemiker, Journalist und Religionsphilosoph) deren Grenzen durchbrach, in der Nähe von Leonardo, nur daß dieser 67, Pascal – nach schwerer Krankheit – nur 39 Jahre alt wurde (p 317). Für Voltaire (u. a. Publizist, Künstler, Gutsbesitzer, Uhrenfabrikant) im Jahrhundert danach ist das Pascalsche Christentum geradezu archaisch, unplausibel, lebensfeindlich. Mit Voltaire und der Aufklärung übernimmt ein „ethisierte[s] und moralisierte[s] Christentum“ (Lorenz Jäger).
Von der Einleitung bis zur Conclusio – Flasch ist ein ideengeschichtliches Meisterwerk gelungen. Das Buch erschien 2020 im Verlag Vittorio Klostermann (Leseprobe) – passend zum 90. Geburtstag des Autors.