15. Dezember 2020

Lektüren – Descartes

René Descartes, Discours de la Méthode (1637) 1)
René Descartes, Meditationes de prima philosophia (1641) 2) 3)

Hans Poser, René Descartes. Eine Einführung (2003)
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen (1931/1950)
Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen (2019, Kapitel VII.3)

George Steiner, Gedanken dichten (2011, Kapitel 5)
Durs Grünbein, Vom Schnee oder Descartes in Deutschland (2003)
Durs Grünbein, Der cartesische Taucher. Drei Meditationen. (2008)

Frans Hals, 1648, Porträt Descartes, Public domain, via Wikimedia Commons

Armer Descartes also, was hat man ihm nicht alles angehängt. Dabei war er es , der uns, in einer verqueren Welt der physikalischen Effekte, den Schlüssel zur Freiheit des Individuums übergab. seltsamerweise ist nun aber nicht sein Nachfolger und Überwinder Newton der Übeltäter […] Als Erzverräter an der Natur gilt vielmehr der Essentialist Descartes. Er allein, dieser entschiedenste aller Träumer, der gegen jede Logik auf der Selbstgesetzgebung des Geistes beharrte, steht wegen seines intellektuellen Staatsstreichs heute noch vor Gericht. Wider alle Gewohnheit und Wahrscheinlichkeit wird bei ihm das Sein vom Bewusstsein bestimmt. […]
Ein Verdacht drängt sich auf, und es scheint so, als habe er mit der Rolle zu tun, die Wissenschaft heute im Gesamtgefüge der modernen westlichen Kulturen spielt. Wenn Wissenschaft, nach einem Wort Hans Blumenbergs und einer Idee Sigmund Freuds, der Todestrieb der Gattung ist (lange bevor sie die Mittel zu ihrer Vernichtung bereitstellt), dann ist in ihr ein Impuls am Werk, der das am meisten fürchten muß, was er am intensivsten betreibt. Es ist ihnen nicht ganz wohl bei der Sache und sie fragen sich, wer die Auslöser einer solch fatalen Kettenreaktion waren. Hier kommt nun Descartes wie gerufen, mit seiner ganzen Bewußtseinsselbstherrlichkeit und Naturabtrünnigkeit, ein rigoroser Freigeist und der wohl größte Entwurzler überhaupt. Es gibt in der Geschichte mitunter Figuren, in denen alles zusammenkommt, weil sie an einem Menschheitswendepunkt stehen, der sich in ihnen gewissermaßen verkörpert. Descartes ist der fröhliche Totengräber der alten Wissensordnungen und dabei einer der letzten klassischen Menschen, bevor Wissenschaft selber die Brücken zur Menschheit abbricht. Da war dieser eine, der unter den statischen Sphärenhimmeln des Mittelalters hervortrat und sich davon machte in Richtung Zukunft. Mit seinem Cogito zog er aus, eine Welt zu gewinnen. Wenn auch die großen Durchbrüche alle erst nach ihm kommen, war er doch derjenige der die Erzählung in Gang setzte: die vom Subjekt, das sich aufrafft, die Gewißheit zu erlernen. »Die im Zerfall der mittelalterlichen Realitätsgarantie ungewiß gewordene Welt sollte durch den kartesischen Handstreich in die Verfügbarkeit des Subjekts zurückgeholt werden«, so Blumenberg. Sollte es dieser Coup gewesen sein, der ihn für alle Zeiten zur begehrtesten Persona non grata der Geistesgeschichte macht?

Durs Grünbein, Der cartesische Taucher. Drei Meditationen., 2008, Ffm, eu 7, S.107f.
Das Blumenberg-Zitat am Ende ist aus: Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 2020, Ffm, stw 2091, S. 894

1) Philosophische Bibliothek 624, 2011. Französisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers
2) Philosophische Bibliothek 597, 2008. Lateinisch-deutsch. Vollständig neu übersetzt, mit einer Einleitung herausgegeben von Christian Wohlers
3) Philosophische Bibliothek 598, 2011. Vollständig neu übersetzt, mit einer Einleitung herausgegeben von Christian Wohlers